BGH stärkt Rechte betroffener Personen im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren

Der BGH hatte erstmals Gelegenheit, der gerichtlichen Praxis deutliche Leitlinien im Verfahren zur Bestellung eines Vertreters im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X an die Hand zu geben und stärkt zugleich die Rechte des betroffenen Personenkreises. Zugleich lenkt er den Fokus auf ein in der Praxis nur selten zur Anwendung kommendes Rechtsinstitut, das im Einzelfall geeignet ist, die Bestellung eines Betreuers entbehrlich zu machen.

In dem Beschluss vom 13.08.2025 – Aktenzeichen XII ZB 285/25 – stellt der BGH klar, dass in betreuungsrechtlichen Zuweisungssachen nach § 340 FamFG, die die Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X betreffen, nach § 15 Abs. 4 SGB X die verfahrensrechtlichen und materiell rechtlichen Regelungen des Betreuungsrechts vollständig entsprechend anzuwenden sind. Gegen Entscheidungen des Beschwerdegerichts kann aufgrund dessen eine Rechtsbeschwerde zulassungsfrei eingelegt werden. Zudem darf in diesen Verfahren nach § 1814 Abs. 2 BGB kein Vertreter gegen den freien Willen der betroffenen Person bestellt werden, ist der Aufgabenkreis des bestellten Vertreters nach § 1815 Abs. 1 BGB konkret und möglichst eng gefasst anzuordnen und der Wunsch bezüglich der Person des Vertreters nach § 1816 Abs. 2 BGB grundsätzlich zu beachten. Im Einzelnen:

Zugrunde liegt der Entscheidung eine Sachverhaltskonstellation, in der der Sozialleistungsträger der betroffenen Person seit dem 01.09.2023 lediglich vorläufig ergänzende Grundsicherungsleistungen bewilligt hatte, weil diese nicht ausreichend mitgewirkt habe, um ihre wirtschaftlichen Verhältnisse zu klären. Deshalb beantragte der Sozialleistungsträger beim zuständigen Betreuungsgericht die Bestellung eines Verfahrensvertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X, um eine endgültige Entscheidung über die Leistungsbewilligung für die Zeiträume ab dem 01.09.2023 herbeiführen zu können. Die Bestellung eines Verfahrensvertreters sei erforderlich, weil die betroffene Person ausweislich eines Sachverständigengutachtens an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit zwanghaften schizoiden und paranoiden Anteilen leide, krankheitsbedingt nicht sachgerecht tätig werden könne und seine Fähigkeit, entsprechend einer gewonnenen Einsicht zu handeln, erheblich vermindert sei. Voraus gegangen war ein sozialgerichtliches Verfahren, in dem die betroffene Person in 2. Instanz obsiegte, wobei das Landessozialgericht in der Begründung seiner Entscheidung auf die Möglichkeit des § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X hingewiesen hatte. Das zuständige Amtsgericht ordnete der betroffenen Person einen Mitarbeiter eines Betreuungsvereins als Vertreter in dem sozialrechtlichen und sozialgerichtlichen, bei Sozialgericht X und dem Landessozialgericht Y geführten Verfahren bei. Die von der betroffenen Person eingelegte Beschwerde wies das Landgericht zurück, wogegen sie erfolgreich Rechtsbeschwerde einlegte.

Zunächst führt der BGH aus, dass die Rechtsbeschwerde auch ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht zulässig ist. Das gelte – anders als in Verfahren auf die Bestellung eines Pflegers für einen Volljährigen nach der Rechtslage vor dem 01.01.2023 – deshalb, weil nach § 15 Abs. 4 SGB X in Fällen des Abs. 1 Nr. 4 die Vorschriften über die Betreuung entsprechend gelten. Diese Verweisung erfasse neben dem materiellen Betreuungsrecht nicht nur das für Betreuungssachen maßgebliche Verfahrensrecht nach den §§ 271 – 311 FamFG, sondern folgerichtig auch die Vorschriften im allgemeinen Teil des FamFG, soweit darin spezielle Bestimmungen für Betreuungssachen enthalten sind. Eine solche Bestimmung stellt insbesondere § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG mit seiner Regelung zur Zulassungsfreiheit einer Rechtsbeschwerde in Betreuungssachen dar.

Im zweiten Schrit befasst sich der BGH mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X. Danach kann in einem sozialrechtlichen Verfahren auf Ersuchen der Behörde durch das zuständige Betreuungsgericht ein geeigneter Vertreter für einen Beteiligten bestellt werden, der in Folge einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, in diesem Verfahren selbst tätig zu werden. Das Betreuungsgericht ist dabei nicht an die Einschätzung der Behörde gebunden, sondern hat im Wege der Amtsermittlung, vgl. § 26 FamFG, eigenständig zu überprüfen, ob die materiellen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X erfüllt sind. Andererseits darf das Betreuungsgericht die Ermessensausübung der Behörde, die dem Ersuchen zugrundeliegt, nicht überprüfen. Demgemäß kann eine Vertreterbestellung nicht mit dem Argument, die Bestellung eines Vertreters sei nicht erforderlich, weil das Verwaltungsverfahren auch ohne Mitwirkungshandlungen seitens des Verfahrensbeteiligten abgeschlossen werden könnte, abgelehnt werden.

Daran anschließend hält der BGH fest, dass nach dem Wortlaut und der Gesetzessystematik die Bestellung eines Vertreters im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren gegen den freien Willen der betroffenen Person nicht möglich ist. § 15 Abs. 4 SGB X verweist nämlich uneingeschränkt auch auf alle Vorschriften des materiellen Betreuungsrechts, also auch auf § 1814 Abs. 2 BGB, wonach gegen den freien Willen des Betroffenen kein Betreuer bestellt werden darf. Damit verwirft er die vom LSG NRW, FamRZ 2018, 291, 292, vertretene Auffassung, der in der Literatur Stimmen gefolgt sind, wonach für einen zur freien Willensbestimmung fähigen, aber im Sozialverwaltungsverfahren handlungsunfähigen Beteiligten auch gegen dessen Ablehnung ein Vertreter nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X bestellt werden kann. Diese Auffassung könne sich insbesondere nicht auf Sinn und Zweck des § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X stützen. Denn auch wenn die Vorschrift vorrangig dazu diene, die Interessen der betroffenen Person zu schützen, um deren sozialen Rechte zu verwirklichen und sie nicht von Sozialleistungen auszuschließen, finden alle staatlichen Maßnahmen des Erwachsenenschutzes ihre verfassungsrechtliche Grenze am Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person, vgl. Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG. Solange die freie Willensbestimmung nicht aufgehoben ist, steht es jeder Person frei, staatliche Hilfen solange abzulehnen, wie dadurch nicht Rechtsgüter anderer oder der Allgemeinheit verletzt werden. Das gilt selbst dann, wenn die Hilfen objektiv vorteilhaft wären.

Ergänzend führt der BGH aus, dass sich auch aus der Entstehungsgeschichte des § 15 SGB X nichts anderes ergibt, da auch mit dem Inkrafttreten der Ursprungsfassung die Bestellung eines Vertreters im Verwaltungsverfahren für eine geschäftsfähige Person gegen deren Willen ausschied. Daran änderte auch das Inkrafttreten des Betreuungsrechts zum 01.01.1992 nichts, da trotz geänderter Terminologie unverändert ein Betreuer aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ohne das Einverständnis eines zur freien Willensbildung fähigen Betroffenen bestellt werden konnte. Dies habe der Gesetzgeber im Jahr 2005 mit der gesetzlichen Einfügung des § 1896 Abs. 1a BGB a.F., jetzt § 1814 Abs. 2 BGB, gesetzlich veranschaulicht.

Auf dieser Grundlage wendet der BGH seine bisherige Rechtsprechung zur Betreuerbestellung bei fehlendem Einverständnis auf die Bestellung eines Vertreters für das Verwaltungsverfahren nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 BGB an. Demzufolge bemisst sich die Frage nach einer freien Willensbestimmung danach, ob die betroffene Person in der Lage ist, mit ausreichender Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Fehlt nur eines der Elemente, besteht kein freier Wille. Verfahrensrechtlich ist bei der Überprüfung der Fähigkeit zur freien Willensbildung zu beachten, dass die Feststellungen zum Ausschluss der freien Willensbestimmung durch ein Sachverständigengutachten belegt sein müssen. Bezogen auf § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X bedarf es zur Bejahung der Einsichtsfähigkeit der Fähigkeit, im Grundsatz die für und wider eine Vertreterbestellung im Sozialverwaltungsverfahen sprechenden Gesichtspunkte zu erkennen und miteinander abzuwägen. Hinzutreten muss die Fähigkeit, Grund, Bedeutung und Tragweite einer Vertretung intellektuell erfassen zu können, was nur zu bejahen ist, wenn die betroffene Person ihre Defizite im Wesentlichen zutreffend einzuschätzen weiß und auf Grundlage dieser Einschätzung die für und gegen eine Vertretung sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen vermag. Ist die betroffene Person insoweit zur Bildung eines klaren Urteils in der Lage, muss die Steuerungsfähigkeit hinzutreten. Sie verlangt die Fähigkeit, nach dem getroffenen Urteil handeln und sich insbesondere von Einflüssen Dritter abgrenzen zu können.

Inhaltlich genügen nach der Rechtsprechung des BGH zur Betreuerbestellung weder die Feststellung, die freie Willensbildung sei krankheitsbedingt beeinträchtigt bzw. nicht unbeeinträchtigt, noch sie sei stark eingeschränkt bis aufgehoben, um die Ablehnung einer Betreuerbestellung durch die betroffene Person übergehen zu können. Das überträgt der BGH vorliegend 1:1 auf das Verfahren zur Bestellung eines Vertreters im Sozialverwaltungsverfahren. Da vorliegend das Sachverständigengutachten nur zum Ergebnis kommt, dass die Fähigkeit der betroffenen Person nach ihrer Einsicht zu handeln erheblich vermindert ist und das Betreuungsgericht allein erhebliche Zweifeln an der der Steuerungsfähigkeit konstatieren konnte, kommt der BGH zum Ergebnis, dass es an der eindeutigen und sachverständig belegten Feststellung eines aufgehobenen freien Willens fehlt, die angefochtene Entscheidung deshalb aufzuheben und das Verfahren an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen ist. Dieses habe bei seiner neuerlichen Entscheidung ggf. zu beachten, dass sich die Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X nur auf bestimmte, konkret zu bezeichnende Verfahren beziehen darf. Zudem sei zu prüfen, ob angesichts der Äußerungen der betroffenen Person beim Sachverständigen in Hinblick auf seine Schwester ein grundsätzlich beachtlicher Wunsch bezüglich der Person des Vertreters vorliegt, vgl. § 15 Abs. 4 SGB X iVm § 1816 Abs. 2 BGB.

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