BVerfG zum Ort ärztlicher Zwangsmaßnahmen – Urteil am 26.11.2024
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat nunmehr mit der Pressemitteilung Nr. 92/2024 vom 7. November 2024 mitgeteilt, dass er auf Grundlage der mündlichen Verhandlung vom 16. Juli 2024 (siehe dazu unten) am Dienstag, den 26. November 2024, 10.00 Uhr, im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts, Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe sein Urteil verkünden wird.
Zur Vorgeschichte:
Am 16. Juli 2024 fand eine der raren mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgeicht in Karlsruhe statt. Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist eine Vorlage des Bundesgerichtshofes zu der Frage, ob die gesetzliche Vorgabe, nach der ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten nur im Rahmen eines stationären Aufenthaltes in einem Krankenhaus durchzuführen sind, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz vereinbar ist – siehe dazu den Beschluss vom 8. November 2023 – XII ZB 459/22.
Ich konnte an der Verhandlung teilnehmen und war sehr beeindruckt von der sachlichen, eingehenden und tiefer gehenden Diskussion in der Verhandlung, die allen Verfahrensbeteiligten Gelegenheit gab, ihre Sichtweise vorzutragen und zu begründen. Es fehlte allerdings die Beteiligung eines reinen Betroffenenverbandes, was ich als bedauerlich empfand. Das gilt umso mehr, als es dem zuständigen 1. Senat sehr daran gelegen war, Einblick in das rechtstatsächliche Geschehen zu erhalten, für das es bislang an empirischen Daten (insbesondere seitens der statistikführenden Justiz) mangelt. Dabei entspann sich unter dem Vorsitz des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Prof. Dr. Stephan Harbarth, der auch als Berichterstatter fungierte, eine stringente und konzentrierte Debatte.
Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist eine Vorlage des Bundesgerichtshofes zu der Frage, ob die gesetzliche Vorgabe, nach der ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten nur im Rahmen eines stationären Aufenthaltes in einem Krankenhaus durchzuführen sind, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz vereinbar ist.
Entlang einer Verhandlungsgliederung haben die Richterinnen und Richter des 1. Senats die aus ihrer Sicht maßgeblichen Fragenkomplexe abgearbeitet. Nach der Durchführung der Formalia und eines Sachberichtes des Berichterstatters erhielten die Beteiligten Gelegenheit zu einer, die schriftlichen Stellungnahmen ggf. ergänzenden einführenden Stellungnahme. Diese wurde allein von der Ministerialdirektorin im BMJ Frau Ruth Schröder für die Bundesregierung wahrgenommen. Sie rief noch einmal die gesetzgeberische Intention in Erinnerung, hier vor allem die Sicherstellung einer weiteren Überprüfung der Notwendigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen im Rahmen institutioneller Vorgaben, Schutz des persönlichen Wohnumfeldes der Betroffenen vor staatlichen Eingriffen und Stärkung des „Ultima ratio Grundsatzes“. Eindringlich warnte sie davor, die Tür zu einer ärztlichen Zwangsmaßnahme weiter zu öffnen und einen „Dammbruch“ mit unabsehbaren Folgen in Kauf zu nehmen. In diesem Zusammenhang wies sie auf die aktuell geltende Rechtssituation in Australien mit einer deutlich höheren Quote von ärztlichen Zwangsmaßnahmen hin.
Im Folgenden wurden die Zulässigkeit der Vorlage als problemlos eingeschätzt und die Beteiligten befragt, ob eine Erweiterung der Reichweite der Vorlagefrage gewünscht wird, etwa auf nicht untergebrachte Betroffene oder Einbeziehung von Menschen mit einem Bevollmächtigten. Prof. Dr. Volker Lipp als Bevollmächtigter der Bundesregierung wies darauf hin, dass von der Konzeption des Betreuungsrechts Menschen mit einem Vorsorgebevollmächtigten ohnehin eingebunden sind und Erweiterungen der Vorlagefrage in Hinblick auf die Verschiedenheit der zugrundeliegenden Sachverhalte und insoweit nicht vorhandener empirischer Ergebnis nicht zielführend wären. Die weiteren Verfahrensbeteiligten gaben in diesem Punkt keine Erklärungen ab.
Weiten Raum nahmen die Fragen zur Verfassungskonformität ein. Ein Schwerpunkt bildete hier die Frage nach den Vor- und Nachteilen des Erfordernisses der stationären Krankenhausbehandlung, insbesondere – wie es Prof. Dr. Harbarth formulierte – unter dem Gesichtspunkt gesundheitlicher Beeinträchtigungen, bis hin zu Lebensbeeinträchtigungen für die Betroffenen. Prof. Dr. Lipp setzte dazu einen Schwerpunkt in Hinblick auf die Wahrung des „Ultima ratio Grundsatzes“, der – entsprechend der gesetzgeberischen Intention – durch eine Dreistufigkeit in der Praxis abgesichert werde. Zu Anfang stehe das Arzt-Patienten-Verhältnis, in dem vorrangig die Frage der Indikation einer ärztlichen Maßnahme zu klären sei, sich die Überlegung anschließt, ob es im konkreten Behandlungsfall Alternativen bzw. mildere Mittel gebe sowie die Frage der Indikation zur gewaltsamen Umsetzung einer ärztlichen Maßnahme. Werde dies bejaht, folge ggf. die gewaltsame Verbringung in ein Krankenhaus zur stationären Behandlung. Im Krankenhaus trete schließlich in der dritten Stufe eine weitere ärztliche Einschätzung und Überprüfung der gewaltsamen Behandlung hinzu, wozu es im Übrigen inzwischen erste ärztliche Standards bzw. entsprechende Entwicklungen gebe. Letzterem widersprach Prof. Dr. Thomas Pollmächer als Vertreter für die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN). Der klinische Alltag kenne keine weitere Überprüfung der Notwendigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen, sondern nur den Versuch einer gewaltfreien Umsetzung der vom Betreuer eingewilligten und dem Betreuungsgericht genehmigten ärztlichen Maßnahme. Prof. Dr. Lipp wies ergänzend darauf hin, dass es zwar der Eigenart des Betreuungsrechtes entspreche, einen nachgelagerten Schutzmechanismus durch den Betreuer – auch bereits für vorgelagerte Maßnahmen im Rahmen der Diagnostik, die häufig ebenfalls schwerwiegende gesundheitliche Folgen, etwa bei einer Liquorentnahme, zeitigen könnten – vorzusehen. So müsse der Betreuer bei einer Änderung des der gerichtlichen Genehmigung zugrundeliegenden Sachverhaltes, das Gericht unverzüglich informieren und ggf. seine Einwilligung widerrufen. Ungeachtet dessen treffe einen Arzt eine vergleichbare Verpflichtung. Auf Fragen des Gerichtes stellte Prof. Dr. Pollmächer im Anschluss die in der Praxis zu beobachtenden verschiedenartigen Gründe für die Ablehnung ärztlicher Maßnahmen durch Patienten vor. Diese Gründe können rationale Grundlagen, z.B. Angst vor unerwünschten Nebenwirkungen, aber auch irrationale Grundlagen im Rahmen fehlender Behandlungseinsicht aufweisen. Die konkreten Folgen einer zwangsweisen Verbringung hingen letztlich vom Krankheitsbild im Einzelfall ab. Als besonders beeinträchtigende Umstände bezeichnete er die Art und Dauer des Transportes, mögliche, eher seltene Verletzungen bei einer Fixierung wehriger Patienten und vorallem psychische Beeinträchtigungen, hier die Verarbeitung der erlebten Gewalt im Rahmen der psychischen Krankheit. Es gebe durchaus Fälle, in denen Ärzte von Zwangsmaßnahmen absehen würden, weil der anzuwendende Zwang zu erhebliche Nebenwirkungen zeitigen würde. In diesem Rahmen berichtete Herr Martin Wierzyk vom der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie Berufsverband Psychosoziale Berufe e.V. (DGVT BV) sehr schön nachvollziehbar über die Unterschiede zwischen einer belastenden Störung, einem Trauma und einer Traumafolgestörung, ihre möglichen Auswirkungen auf Patienten und ihre Behandlungsmöglichkeiten.
Im nächsten Verhandlungsschritt beklagten die Beteiligten unisono die fehlenden empirischen Daten zu den Vor- und Nachteilen des Erfordernisses der stationären Krankenhausbehandlung. Herr Prof. Dr. Pollmächer wurde wiederholt zur Sicht der Psychiater zur Häufigkeit des gewaltsamen Transportes in ein Krankenhaus, Folgen für Betroffene, gesundheitliche Beeinträchtigungen, Vermeidung solcher Folgen, Trauma, Retraumatisierung, denkbare mildere Mittel etc. befragt, ohne auf konkrete Zahlen verweisen zu können. Prof. Dr. Lipp wies darauf hin, dass die sog. B-Statitik der Gerichte in diesen Punkten wenig hilfreich sei und auch klinische Dokumentationen fehlen. Er relativierte diese Aussage allerdings in Hinblick auf den Abschlussbericht vom 31. Januar 2024 zur Evaluierung des Gesetzes zur Änderung der materiellen Voraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17. Juli 2017 (abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Fachpublikationen/2024_Forschungsbericht_Zwangsmassnahmen_BR.html Letzter Abruf 15.6.2024 ) und den dortigen Ergebnissen, die insbesondere keine Erweiterungen hinsichtlich des Ortes einer ärztlichen Zwangsmaßnahme ergeben hätten. Herr Dr. Danner von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG Selbsthilfe) beklagte ebenfalls die defizitäre Datenlage und verwies darauf, dass sich im Rahmen der Landesunterbringungsgesetze bei den Besuchen der Besuchskommission häufig Auffälligkeiten zeigten, die darauf hindeuten würden, dass die Verfahrensabläufe „nicht sauber“ seien. Herr Kay Lüttgens vom Bundesverband der Berufsbetreuer*innen e.V. (BdB) zog daraus die Folgerung der Notwendigkeit einer besseren Schulung von Betreuern und Verfahrenspflegern.
Unter dem weiteren Unterpunkt „Alternative Durchführungen“ wurden Belastungen und Gefahren für die Betroffenen erörtert, und zwar unter den Stichworten Vermeidung von Fehlanreizen, Schutz des privaten Umfeldes, Sicherung des medizinischen Versorgungsniveaus. Prof. Dr. Harbarth wies darauf hin, dass die Bindung der ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus das Verfahren komplizierter und mühsamer machen und so – wie vom „Ultima-ratio-Grundsatz“ bezweckt – dämpfend wirken könne. Andererseits sei aber verfassungsrechtlich durchaus zu bedenken, dass das Verfahren nicht zu stark dämpfend wirken dürfe und Betroffene aufgrund dessen nicht den ihn zustehenden Schutz durch den Staat erfahren. Prof. Dr. Lipp verwies darauf, dass es dem Gesetzgeber mit den Verfahrensgrundsätzen nicht um die Vermeidung von Fehlanreizen, sondern um die Unterfütterung des „Ultima-ratio-Grundsatzes gehe. Gleichwohl habe jeder Betroffene Anspruch auf den staatlichen Schutz seiner Gesundheit und seines Lebens.
Schlussendlich wurden Fragen zu einer möglichen Änderung der Örtlichkeit für eine Zwangsbehandlung aufgeworfen und intensiver erörtert. Überstimmung bestand bei den Beteiligten dahin, dass das private Umfeld der Betroffenen einem besonderen Schutz unterliege und von daher zwangsweise ärztliche Maßnahmen auch innerhalb einer Einrichtung in einem besonderen Raum stattfinden müssten (mit dem sich auch dann ggf. ergebenden Problem der Verbringung dorthin). Seitens des 1. Senats wurde nachgefragt, ob es im Rahmen stationärer Behandlungen im Krankenhaus strukturelle Sicherungen gibt, in der Praxis Defizite bekannt geworden sind und über welchen Zeitraum eine Nachsorge erforderlich sei. Insoweit verwies Prof. Dr. Pollmächer eingangs darauf hin, dass es für eine ärztliche Zwangsbehandlung einer sorgfältigen Vorbereitung und Nachsorge bedürfe. Ergäbe sich der Bedarf für eine Sedierung müsse eine Person durchgängig für ein bis zwei Stunden beim Patienten verbleiben. Wichtig sei innerhalb der Nachsorge die Schaffung einer Gelegenheit für den Patienten, über das Geschehene zu sprechen und es zu reflektieren. Dr. Danner wies darauf hin, dass es in Krankenhäusern an einer effektiven Qualitätssicherung in Hinblick auf die von Prof. Dr. Lipp skizzierte dritte Stufe der Kontroffe fehle. Für den Betreuungsgerichtstag e.V. (BGT) berichtete Frau Richterin am Amtsgericht Annette Loer, dass sich in der gerichtlichen Praxis eine Zunahme von zwangsweisen Unterbringungen zeige, nicht aber bei der Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen. Daraus sei zu schließen, dass es im Rahmen der stationären Behandlung im Krankenhaus sehr häufig gelinge, Betroffene dafür zu gewinnen, in ärztliche indizierte Maßnahmen einzuwilligen. Aufgrund dessen dürfe die Tür für Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen keineswegs gesetzlich weiter geöffnet werden. Zur Stellungnahme des BGT e.V. siehe BtPrax 2024, S. 90 – 95.
Die Punkte der Berücksichtigung des ursprünglich freien Willens Betroffener sowie rechtliche Fragen im Zusammenhang mit Schutzpflichten, Abwehrrechten und gesetzgeberischem Spielraum wurden nur kurz gestreift.
Abschließend bat Prof. Dr. Lipp das Bundesverfassungsgericht darum, den Schutz der Selbstbestimmung und den Schutz vor einer ärztlichen Zwangsmaßnahme unverändert als vorrangig zu betrachten. Weiter wies er darauf hin, dass für den Fall, dass der Senat Ausnahmeregelungen ins Auge fassen sollte, gesetzliche Neuregelungen einen längeren zeitlichen Vorlauf benötigen würden. Angesichts der Divergenzen, fehlender empirischer Grundlagen und vieler abweichender Einzelfälle sei eine gesetzliche Neuregelung kaum formulierbar. Zudem bedürfe es der Einbindung von Betroffenen und deren Angehörigen.
Beeindruckend fand ich die mündliche Stellungnahme der Frau Schröder vom BMJ und die immer wieder auf den Punkt kommende und kenntnisreich vorgetragene Argumentation von Herrn Prof. Dr. Lipp (auch wenn ich rechtlich etwas anderer Ansicht bin, s. Dodegge/Roth, Systematischer Praxiskommentar Betreuungsrecht, 6. Auflage, Teil G, Rn. 75). Nachhall wird auch die mit viel Emotion vorgetragende Stellungnahme der Frau Loer aus dem gerichtlichen Alltag haben.
Nach meinem Eindruck hegt der Senat offenbar verfassungsrechtliche Bedenken, wobei innerhalb des Senates keine Einigkeit zu bestehen scheint. Unabdingbar erscheint es mir indessen, dass die Landesjutizverwaltungen rasch ihre statistischen Erhebungen an der Betreuungsgerichten ausweiten, auch um den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht zu werden. Schon die sog. Garbrecht Kommission zu „Herausforderndem Verhalten und Gewaltschutz in Einrichtungen der Eingliederungshilfe“ hatte im vergangenen Jahr gegenüber Vertretern des Justizministeriums NRW – allerdings erfolglos – auf eine fundiertere und eingehende Erhebung von statistischen Daten in den Betreuungsgerichten gedrungen. Ein Skandal bleibt es unabhängig davon, dass das Bundesamtes für Justiz hinsichtlich der letzten für für das Jahr 2021 erhoben Daten feststellen musste: „Vier Bundesländer konnten für das Berichtsjahr 2021 keine validen Daten zur Verfügung stellen. Ein Bundesergebnis konnte für das Jahr 2021 daher nicht ermittelt werden.“